Das Wuchern der Fiktionen parallel zur Natur | Heinz-Norbert Jocks


Für die Bildhauer, die von einer festen Vorstellung ausgehen, ist die Frage des Materials meist eher sekundär. Ganz anders das Vorgehen von Martin Schwenk. Bei ihm geht es weder darum, die Materialien in den Dienst einer über alles thronenden Idee zu nehmen und damit erstarren zu lassen. Noch will er einer Figur, die er sich zuvor imaginativ zurechtgelegt oder ausgedacht hat, zu einer konkreten Form und damit zu einer toten Existenz verhelfen. Er degradiert das Material nicht zu etwas Sekundärem, Beiläufigem oder Peripherem. In seinen Augen alles andere als nur ein Mittel zum Zwecklosen, ist es für ihn eben keineswegs etwas, was der Künstler an sich reißt, sich unterordnet oder unterwirft. Nein, es stellt im Gegenteil für ihn eine große Herausforderung, ja ein ihm Widerstand leistendes Gegenüber dar, von dem aus er zu neuen plastischen Ufern aufbricht. In dem Material sieht er letztendlich eine Art von Geheimnis mit formenden wie formbaren Möglichkeiten, denen er im Experiment hinterherspioniert und die sich erst im Verarbeitungsprozess zu erkennen geben. Kurz, das Material erweist sich bei seiner Recherche als zentraler Gegenstand der Skulptur. Dabei faszinieren ihn Acrylglas, Polyester oder PU-Schaum schon deshalb mehr als Holz, Stein, Ton, Eisen, Stahl oder Bronze, weil sich diese überall auffindbaren Baumaterialien aufgrund ihres speziellen Reaktionspotenzials zum kreativen Experimentieren besser eignen. Bei ihrer Wahl verlieren sich die Unterschiede zwischen ästhetisch und nicht-ästhetisch, wertvoll und banal. Das aber sind für Schwenk keine Kategorien von Relevanz. Ganz andere Dinge sind entscheidend. Die stimulierenden Momente des Überrascht-Werdens sind da ebenso von Wichtigkeit wie die schöne Entdeckung der „hohen Variabilität in der formalen Sprache des Materials“.1 Geradezu spannend zu erleben ist es, wie der Künstler seine Skulpturen aus dem Dialog mit künstlich erzeugten Stoffen heraus entwickelt, wie er sich davon auf dem Weg ins Offene hinreißen und leiten lässt und wie er die sich beim Umgang mit den Materialien ereignenden Zu- oder Unfälle auch dazu nutzt, der drohenden Gefahr der Routine zu entkommen. Das Scheitern ist für ihn immer auch eine Schwelle zum Neuanfang.

Ja, man kann sagen: Als Bildhauer verhält sich Schwenk nicht viel anders als der Zeichner, der er auch ist und der auf gut Glück und spontan eine erste Linie zieht, dann weitere folgen und sich schließlich von seiner Fantasie ebenso wie von Erinnerungen an etwas Gesehenes in diverse Richtungen treiben lässt. Was er dabei zum Vorschein bringt, ist abhängig von den Möglichkeiten und Eigenschaften, die dem Material innewohnen, und gleichzeitig befreit von den Funktionen, die diesem im Alltag à priori zugewiesen werden. Erst beim Arbeiten mit dem Material entscheidet es sich, welche Form oder Gestalt es annehmen soll. Was das genau bedeutet, wird vor dem Hintergrund der Bedeutung des Übergangsstadiums in der Kunst von Schwenk verständlich. Dabei bewegt ihn die Frage, wie er das Material auf unübliche Weise benutzen kann. "Mit einer gewissen Vorliebe arbeite ich mit dem Material in der Phase, wo man es in der Regel gar nicht benutzt. Nehmen wir Polyester als Beispiel. Bei dem interessieren mich die vielleicht zwei Minuten, in denen das Material weich ist und allmählich anfängt, hart zu werden. Da lässt sich der Polyester noch formen und daher anders als gewöhnlich einsetzen", so Schwenk in einem Gespräch mit dem Autor. Seine ganze Aufmerksamkeit konzentriert sich auf jenen kurzen Moment, da ein Material sich im Übergang beispielsweise von einem flüssigen zu einem festen Zustand befindet. Da, wo alles noch fließt, das Material noch in Bewegung und sein Endzustand noch nicht fixiert ist, offenbaren sich die dann von dem Bildhauer ergriffenen Möglichkeiten. Denn im Augenblick des Übergangs zeigt sich, wozu das Material in der Lage, wie wandelbar es ist, unter welchen Bedingungen es sich wie verändert, bis zu welchem Grad es sich wohin manipulieren, was sich alles daraus wozu modellieren lässt und was dabei mit und an seiner Oberfläche passiert.

Mit seiner speziellen Art und Weise, sich auf Materialien und Stoffe einzulassen, sie wie ein neugieriger Forscher von innen heraus zu erkunden und zu beobachten, um der Frage nachzuspüren, wie sie sich verhalten, widerspricht Schwenk der Beschränkung auf einen rein funktionalen Gebrauch. Dass dem Übergang eines Materials zwischen zwei Stadien eine in seinen Augen ebenso privilegierte Bedeutung zukommt wie dem offenen Prozess des Formens, ja dass die skulpturale Ästhetik bei Schwenk maßgeblich durch die Sichtbarkeit der Übergänge geprägt ist, wird da evident, wo der Künstler sich weigert, Homogenisierungen vorzunehmen. Das alles Glättende ist ihm geradezu suspekt. Statt auf eine Vereinheitlichung des aus mehreren Teilen bestehenden Ensembles, die einen Verlust des Heterogenen bedeutete, und statt auf eine damit herbeigeführte Nivellierung der Übergänge, die sich durch Gießen erzielen ließe, legt Schwenk großen Wert darauf, dass wir sehen und erleben, wie sich das eine an das andere fügt, wie die einzelnen Elemente miteinander verbunden wurden, wo es zu interessanten Brüchen gekommen ist und an welchen Punkten bestimmte Wendungen herbeigeführt worden sind. Hier offenbart sich Schwenks taktile Empfindlichkeit für Formen und Materialien ebenso wie sein Sinn für den Widrigkeitskoeffizienten komplexer Oberflächen. Dass er Picassos Modelle ihren bronzenen Abgüssen nicht nur vorzieht, sondern sie ästhetisch besonders wertschätzt, hat nicht nur damit zu tun, dass sie noch etwas davon verraten, wie sich da beim Machen das eine aus dem anderen ergeben hat, sondern auch damit, dass sich hier entlang den Spuren so etwas wie die unendliche Geschichte einer Genesis ankündigt. Wenn Schwenk im Gespräch auf Picasso zu sprechen kommt und resümiert: "Seine Originale finde ich um Klassen besser als seine Bronzen. Warum? Weil da jeder Handgriff zu sehen ist", so hebt er damit natürlich auch den Aspekt des Manuellen hervor. Ihn stört am Guss einer Skulptur, dass der Ton, aus dem sie geformt wurde, verschwindet und wir es nur noch mit dessen Abdruck zu tun haben. "Ich will nicht das Abbild von Ton, sondern dass es wirklich aus Ton ist." So seine bündige Quintessenz. Eine Verfälschung des Materials schließt er wohl auch wegen des Primats des Handwerklichen aus. Auf seine eigene Kunst und sein Verständnis von Skulptur bezogen, bedeutet dies, dass der visuelle Reichtum eines Werks eng mit der spurenhaften Präsenz der einzelnen Handlungen, Entscheidungen und Schritte verflochten ist, die zu seiner Totalisierung beigetragen haben. Das Heterogene scheint da die Gewähr dafür zu sein, dass das Betrachterauge sich nicht so schnell sattsieht, sondern in eine dauerhafte Spannung versetzt bleibt. Die Stellen, an denen etwas angefügt oder beseitigt wurde, werden bei Schwenk also nicht kaschiert oder überdeckt, sondern treten mit einer solchen Klarheit auf, dass in deren Angesicht und mit deren Hilfe die geheimnisvolle Story des Werdens von uns beinah erzählbar wird. Die Lektüre der Übergänge ist für ihn folglich alles andere als ein unbedeutendes Nebengleis annähernder Interpretation.

Doch was lässt sich über den Gebrauch des Materials bei ihm noch sagen? Was daran ist anders als bei anderen? Vielleicht können wir es erst einmal etwas überspitzen und wie folgt formulieren: Weder lässt er sich von dem Material absolut vorschreiben oder diktieren, wie er es zu formen hat. Noch presst er es in eine Form, die einzig und allein seinem Bewusstsein entsprungen ist. Er zwingt es zu nichts, was nicht in den Bereich von dessen Möglichem fällt. Stattdessen geht er dank seiner intimen Kenntnis in enger Tuchfühlung mit dem Material seine eigenen Wege, die sich partiell mit denen des Materials überschneiden. Vielleicht könnte hier von einem passionierten Mittler zwischen Material und Bewusstsein die Rede sein, von einem experimentellen Künstler, der sich zwischen den Erscheinungsformen und Metamorphosen des Materials und den sich an ihnen entzündenden Fantasien des künstlerischen Geistes bewegt. Daher haftet den Skulpturen nichts an, was auf mit Gewalt durchgesetzte Eingriffe oder auf grobe Fremdeinwirkung schließen ließe. Kein Berserker, bei dem die Späne fliegen, ist hier am Werk, kein Haudegen, der einen Kampf gegen das Material zu bestehen hat, sondern einer, der sozusagen eine Harmonie oder ein Einverständnis mit dem Material anstrebt in der Absicht, ihm Dinge zu entlocken, die den Eindruck erwecken, sich ganz natürlich aus dem Material herauskristallisiert zu haben. Wohl deshalb wirken die plastischen Werke mehr wie organisch anmutende Fantasien des Wachsens oder des Wachstums denn wie organisierte Konstrukte parallel zur Natur.

Vor uns denn auch diverse Formen, nichts als Formen, die fast so aussehen, als verdankten sie sich im Wesentlichen der Natur des Materials selbst. Eines ist hier unübersehbar: Schwenk unternimmt alles, um zu vermeiden, dass die Skulptur wie etwas mit Hilfe von menschlichen Interventionen Erzwungenes oder mit Bewusstsein Geformtes erscheint. Statt so zu wirken, als sei sie gemacht, soll sie die ganz selbstverständliche Erscheinung von etwas aus sich selbst Herausgewachsenem annehmen. In gewisser Weise soll sie so anmuten, als verdankte sie sich mehr dem glücklichen Zufall als einem wie auch immer gearteten Kalkül. Kein Wille, der sich etwas anmaßt oder der sich durchsetzt, ist hier an der Macht, sondern mehr eine gewachsene Poesie des Spielerischen. Ganz eindeutig ausgedrückt: "Hinter all dem soll kein starker Formwille spürbar sein." So pointiert es Schwenk vor dem Hintergrund, dass ein Wort wie Zufall nicht trifft, was er sich vom Aussehen einer Skulptur erwartet. Denn verdankte sie sich nur einem Zufall, so wäre ihre Form beliebig und daher ohne jegliche Rechtfertigung und ohne eine erst auf den zweiten Blick erfahrbare Tiefe. Kein Bauprinzip wäre da erkennbar, aus dem heraus sich die Form erklärte. Ehe die Skulptur den Eindruck vermittelt, sie solle so und nicht anders sein, soll ihrer Form lieber der Schein von etwas Austauschbarem anhaften, und zwar in dem Sinne, dass sie sich genauso gut auch ganz anders hätte entfalten, räumlich ausbreiten oder ausdehnen können. Eine Skulptur, wie er sie kreiert, entspringt einem vitalen Prozess, der kein Ende findet derart, dass er plötzlich abricht. Das wäre so falsch wie die Vorstellung von einem gut gewachsenen Baum in voller Blüte, der auf einmal zu wachsen aufhört oder von keinen Jahreszeiten mehr abhängt.

Die Idee einer Skulptur in Bewegung schwingt hier ebenso mit wie das praktische Wissen darum, dass die Erklärung, das Kunstwerk sei fertig, stets eine Behauptung des Künstlers ist, der ganz für sich darüber entscheidet, wann etwas seine Endform erreicht hat, damit sein Schaffen vorübergehend ein Ende hat und er noch einmal von vorn beginnen kann. "Die Entwicklung einer Skulptur hört nicht von selbst auf, sondern erst, wenn ich mir selber sage, dass der Zustand, den die Skulptur erreicht hat, für mich nun endlich akzeptabel ist. Wenn der Punkt da ist, stelle ich sie schnell weg und erkläre sie für fertig." Solange eine Skulptur das Atelier noch nicht verlassen hat, bleibt sie jedoch dem prüfenden Blick des Künstlers ausgesetzt. Er kann zu jeder Zeit wieder Hand an sie legen und die abgebrochene Arbeit an der Skulptur erneut aufnehmen. Nicht nur wegen des Traums, sie drängender, zwingender zu gestalten, als sie ihm vorkommt, sondern auch deshalb, weil sie einem Formgewächs gleicht, nimmt er die Bewegung des Formens wieder auf. Etwas scheint da noch nicht in und aus sich heraus stimmig zu sein. Die innere Logik einer Skulptur ist eben doch noch nicht da angelangt, wo diese einen Zustand des In-sich-Ruhens erlangt hätte. Denn: "Gewisse Dinge passen noch nicht zueinander. Also demontiere ich es, was bedeutet, dass ich die Einzelteile wieder als Ausgangspunkte benutzen kann. Der Unfall oder das Scheitern führen zu einem Neubeginn, der natürlich wieder scheitern kann. So setzt es sich immer weiter fort, bis es in etwas mündet, was sich vielleicht zu guter Letzt als Werk behauptet. Dieser Prozess verläuft wie eine mäandernde Linie mit kleinen Endpunkten, denen schmale Linien entspringen, die sich dann wieder zu einer kräftigen verbinden."

Wenn wir Schwenk dabei zuhören, wie er über seine Arbeiten spricht, und wenn wir sehen, wie sehr deren Formerscheinungen zwischen abstrakten und Naturformen oszillieren, drängt sich die Vermutung auf, dass allem, was er tut, der Aspekt des Lebendigen zugrunde liegt. Kein Zufall, dass wir es hier mit seltsamen Analogien zur wuchernden Welt des Pflanzlichen zu tun haben. Wir glauben Blüten exotischer Urwaldgewächse zu sehen. Einen Strauch mit dachförmigen Blättern, die wie schützende Schirme anmuten. Ein transparentes, sich stängelartig in die Höhen schwingendes Rohr. Eine Art Nadelgewächs, dessen Grün in der Sonnenhitze zu schmelzen scheint. Neben einer baumähnlichen Erscheinung mit knollenförmigem Geäst auch ein korallenartiger Organismus. Ein seltsames Ungetüm, das an eine Ingwerwurzel erinnert, löst ebensolches Befremden aus wie das Dickicht aus scheibenförmigen Flächen, die, in alle Richtungen gedreht, sich zu einem kaktusartigen Gebilde verdichten, oder der Wald aus pilzähnlichen Formen, die sich gegenseitig so überragen, als wäre da ein Überlebenskampf ums Licht ausgebrochen. Und auch ein blumenartiges Gebilde mit überirdischer Verwurzelung, einem Stängel und ein paar Blättern beschert uns das Glücksgefühl, in eine noch unbekannte Naturwelt fern aller Benennungen eingetaucht zu sein. Das Ganze zeugt von einer so befremdlichen wie befremdenden, vielleicht sogar stacheligen Schönheit, die fast so etwas wie einen Naturschock auslöst. Das künstlich Hergestellte hat da auf einmal den Anschein von etwas Naturhaftem. "Dass dies so ist, hat wohl damit zu tun, dass ich am Anfang eine platte Analogie dazu wollte, dass eine Skulptur, wie ich sie angehe, wächst. So kam es zu den pflanzlichen Assoziationen, die mir dabei halfen, Formen zu finden, die mir einleuchteten und mich selbst im Sinne des Erhabenen überwältigten. Dabei lagen mir persönlich organische Formen mehr am Herzen als die Geometrie oder, anders formuliert, das Rationale des Winkels." Wenn Schwenk sich diesen Formen nähert, so verhält er sich nicht wie ein mimetischer Bildhauer, der Natur so getreu wie möglich nachbildet. Man möchte hier eher von Erfindungen oder, besser noch, Fiktionen parallel zur Natur reden, und wenn wir uns fragen, wie es ihm gelingt, uns in endloses Staunen zu versetzen, so wird man auf das undurchdringliche Geflecht zwischen abstrakt und konkret näher eingehen müssen. Indem er es unterlässt, das Abstrakte ins allzu Konkrete zu wenden, schafft er eine die Fantasie des Betrachters beflügelnde Balance zwischen beiden Extremen. Das Abstrakte ist nie so abstrakt, dass man nicht doch etwas Konkretes damit assoziierte, und das Konkrete nie so konkret, dass es sich eindeutig benennen ließe, und so geraten wir in einen fröhlichen Taumel zwischen dem, was uns bekannt erscheint, und dem ewigen Rätsel des Unbekannten, das uns bis an die Grenzen des Verstehens herausfordert. Im Grunde werden wir mit den Raum okkupierenden Übergangs-figurationen konfrontiert, die den roten Faden des Assoziativen nicht abreißen lassen.

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